Warum Eltern nicht demonstrieren gehen

Alexandra Gorn Smus Juza9i Unsplash

„Warum geht ihr Eltern nicht auf die Straße?“,

höre ich aktuell oft auf Twitter. „Wo bleibt der große Aufstand?“ Die Frage ist berechtigt, denn Gründe, den Bundestag mit Lastwagen voll stinkender Windeln abzuwerfen, hätten wir Eltern zurzeit genug: Das Maß ist voll. Den dritten Pandemiewinter in Folge stehen wir vor verschlossenen Schul- und Kitatüren. Unter dem Deckmantel von massenhaften krankheitsbedingten Personalausfällen schleicht sich längst wieder das Homeschooling und Home-Betreuen ein. Unbeachtet von der Politik und leider auch vom Großteil der Gesellschaft. Es trifft auf Eltern, die mit ihren Kräften schon lange am Ende sind.

Hinzu kommt eine beängstigend ernste Lage in den Kinderkliniken: „Kinder sterben, weil wir sie nicht mehr versorgen können“, warnte neulich ein Arzt aus Hannover. In Deutschland, im Jahr 2022! Kinderkliniken sind am Anschlag, vor den Kinderarztpraxen stehen lange Warteschlangen. Säuglinge mit akuter Atemnot müssen in kilometerweit entfernte Kliniken gefahren werden, weil sie vor Ort niemand mehr aufnehmen kannDie Feuerwehr ersetzt teilweise Rettungswagen, weil alle im Einsatz sind.

In Apotheken fragen Eltern verzweifelt nach Fiebersäften, Hustensäften oder Elektrolyten für ihre seit November dauerkranken Kinder. Doch überall sind die Regale leer, Lieferengpässe, seit Sommer schon. Corona. RSV. Grippewelle. So heftig wie seit Jahren nicht. Statt nach schnellen Lösungen zu suchen, wie Eltern und Kinder jetzt unterstützt werden können, diskutieren wir allen Ernstes schon wieder darüber, ob die Masken daran Schuld seien. Selbst wenn es so wäre (dass es nicht so ist, erklärt Lars Fischer in diesem Artikel für Spektrum sehr einleuchtend): Was nützt uns diese Diskussion, außer, uns schon wieder an die Gurgel zu gehen? Viel wichtiger als Schuldige zu suchen, ist es doch jetzt, Eltern zu entlasten und Kindern schnell das zu geben, was sie brauchen: Einen schnellen und unkomplizierten Zugang zu Medizin, zu Ärztinnen und bald auch endlich wieder zu Schule und Kita. Warum also gehen wir bei all diesen Horrormeldungen nicht auf die Straße? Die Antwort ist kompliziert.

Zunächst einmal ist die gesellschaftliche Gruppe der Eltern äußerst divers. Da ist es schwer, sich auf ein gemeinsames Ziel zu einigen. So wünschen sich Eltern von chronisch kranken Kindern vielleicht die Maskenpflicht zurück, mehr Schutzmaßnahmen und ein sicheres Homeschooling für alle. Andere Eltern haben das Gefühl, während Corona auf so vieles verzichtet zu haben, dass sie jetzt lieber wieder alles mitnehmen möchten, was Spaß bringt – und neue Schutzmaßnahmen eher ablehnen.

Väter müssen allgemein auf weniger Dinge verzichten, sie arbeiten in der Regel genauso viel wie vor Corona. Es sind die Mütter, die gerade strukturell diskriminiert werden. Viele Mütter mussten während Corona bereits ihre Arbeitszeit reduzieren, ihre Elternzeit verlängern, oder ihren Job gleich ganz aufgeben. Viele hängen aktuell schon wieder zuhause, mit ihren dauerkranken Kindern. Dabei verdienen Mütter eh schon deutlich weniger Geld als Väterda sie deutlich häufiger in Teilzeit arbeiten, hinzu lässt der Gender Pay Gap grüßen. Die Krise macht sie finanziell abhängig von Mann oder Sozialhilfen, noch abhängiger als zuvor.

Meine Generation von Müttern ist zwar einerseits schon progressiv, andererseits jedoch noch stark vom Patriarchat geprägt. Wir wuchsen in dem Glauben auf, gleichberechtigt zu sein und trafen dann, als wir Kinder bekamen, auf ein System aus den 50er Jahren. Da wir aber von Kindesbeinen gehört haben, dass wir es ja so gut hätten, dass wir doch längst gleichberechtigt seien, denken wir schnell, wir wären selbst daran schuld, wenn wir die Vereinbarkeit eben doch nicht schaffen – obwohl sie aktuell einfach nicht schaffbar ist. „Ihr könnt doch alle arbeiten, was wollt ihr denn noch?“, heißt es dann. Oder: „Ihr wolltet schließlich Kinder bekommen.“

Filme und Serien gaukelten uns vor, dass doch alles ganz easy zu schaffen sei, wenn wir uns nur genügend anstrengten. Dabei sind die Erwartungen an Mütter extrem gestiegen: Wir sollen arbeiten, aber auch jederzeit für unsere Kinder da sein. Unsere Wohnung, unsere Outfits, unser ganzes Leben soll instagramable sein, unser Körper fit und an Weihnachten sollen wir nicht nur backen und basteln, sondern zu all der Carearbeit und dem Mental Load auch noch einen Wichtel in unsere Wohnungen einziehen lassen. Der Druck ist enorm, die Angst, zu versagen, riesig. Viele Mütter trauen sich gar nicht, zu sagen, dass es ihnen zu viel wird – aus Angst, dafür stigmatisiert zu werden. Erst langsam setzt die Erkenntnis ein, dass die Erwartungen an uns womöglich utopisch sind und wir uns dagegen wehren sollten, bisher aber nur bei einem kleinen Teil unserer gesellschaftlichen Gruppe.

Einige Mütter, wie in meiner ehemaligen Eimsbütteler Blase, sind extrem privilegiert: Unterhielt ich mich während der Lockdowns mit ihnen auf dem Spielplatz, merkte ich oft, dass wir in verschiedenen Welten lebten. Während mein Mann, unser Sohn und ich uns zu dritt auf 64 Quadratmetern ohne Garten und ohne Großeltern mehr schlecht als recht durch die Lockdowns quälten, entflohen sie in ihre Ferienhäuser auf dem Land, in ihre 140-Quadratmeter-Eigentumswohnung inklusive Nanny und Putzfrau oder in die Einliegerwohnung der Großmutter in Blankenese – mit eigenem Garten. Sie konnten es sich teilweise leisten, ein paar Monate nicht zu arbeiten – und trotzdem Urlaube auf Sylt zu verbringen. Diese Mütter lächelten die coronabedingten Einschränkungen einfach weg. „Wir haben es ja noch gut“, erkannten sie zurecht. Leider sahen sie nicht ein, sich für andere stark zu machen, die es nicht so gut hatten wie sie.

Und wieder andere Mütter haben schlicht keine Zeit, sich politisch zu engagieren, laut zu werden, sie sind mit ihren Kräften längst am Ende. Sie bräuchten andere, die sich für ihre Bedürfnisse stark machen. Doch der gesellschaftliche Egoismus lässt sie allein.

Sich zu empören, gar wütend zu werden, scheint etwas zu sein, vor dem viele Frauen in ihren 30er und 40er Jahren hierzulande Angst haben. Es schickt sich nicht, für eine Mutter schon gar nicht, die doch immer nur milde lächelnd Harmonie versprühen soll.

Und schließlich müssen wir uns vielleicht auch das eingestehen: Es kann auch ein spezifisches Millennial-Problem sein, dass wir nicht auf die Straße gehen, denn die Mehrheit von uns war noch nie in ihrem Leben demonstrieren. Während unsere Boomer-Mütter in den 1980ern „Atomkraft- Nein danke!“-Schilder schwenkten und die Gen Z mit Fridays for Future die Massen bewegt, empfinden viele Gen Yler Demonstrationen als übertrieben. Auf die Straße gehen, wirklich? Klingt cool, aber uns fehlt der Antrieb. Es kommt uns nicht direkt in den Sinn. Was, wenn keiner mitkommt? Dann stehen wir da alleine doof rum, denken wir vielleicht.

Ich habe große Hoffnung in die nächste Generation, aber das Problem ist zu groß, um es aufzuschieben. Deshalb lasst uns endlich aktiv werden! Dabei können wir Eltern viel von unseren Teenager-Kindern lernen: Wie man sich organisiert, Fürsprecher:innen findet, Ziele formuliert und für eine wichtige Sache auf die Straßen geht. Auch Petitionen, zum Beispiel auf Change.org können ein Anfang sein. Für weniger schulischen Druck, für bessere Bezahlung von Krankenpflegern und Erzieherinnen, für mehr digitalen Unterricht, finanzielle Unterstützung von Alleinerziehenden und endlich für mehr „Kids first.“ Denn eins steht fest: mehr als bis hierhin halten Eltern und Kinder unmöglich mehr aus.